Verhalten

Wie in der Definition zu 'Verhalten' 3.1 beschrieben wurde, besteht 'beobachtbares' Verhalten im Kern in einer Folge von Reiz-Reaktions-Paaren (Stimulus-Response, s-r) der Art $V=\langle (s_{1},r_{1}), (s_{2},r_{2}), \cdots, (s_{k},r_{k}), \rangle$. Schaut man sich den Artikel von Tolman 1948 [425] an, dann wird man aber nirgendwo solch eine explizite Folge von Reiz-Reaktions-Paaren finden. Was man stattdessen findet, das ist eine Beschreibung einer Versuchsumgebung $W$ (unten 'Welt' genannt), und dann die 'Reaktionen' $r$ der Ratte in dieser Umgebung $W$. Dies rührt daher, dass die Angabe der genauen Reize $s$, die 'tatsächlich' das biologische System stimulieren, bei biologischen Systemen eine eigenständige Forschungsaufgabe ist. Eine Versuchsumgebung $W$ besteht in der empirischen Welt gewöhnlich aus einer großen Fülle von 'Eigenschaften' ('properties') $P$, und welche dieser Eigenschaften - nennen wir sie $P^{S} \subseteq P$ - dann tatsächlich auf ein bestimmtes biologisches System $ S$ als 'Reize' $s$ einwirken, das hängt primär von den 'Sensoren' des Systems ab, sekundär aber auch von der 'Verhaltensfunktion'! Um diese Menge $P^{S}$ bestimmen zu können, muss man eigene 'Wahrnehmungsexperimente' durchführen, um herauszufinden, auf welche Umgebungseigenschaften $P^{S}$ ein bestimmtes System $ S$ überhaupt reagieren kann, und auf welche nicht. Hat man diese Aufgabe erledigt, dann kann man sich bei der Darstellung der Versuchsumgebung $W$ auf jene Eigenschaftsmengen $P^{S}$ beschränken, die das Versuchstier tatsächlich wahrnehmen kann, und dann könnte man mit Bezug auf eine aktuelle 'Position' $POS$ des Versuchstiers $ S$ in einer Umgebung $W$ jeweils sagen, welcher 'Reiz' $s^{S}_{POS}$ bei dieser Position des Versuchstier $ S$ vorlag.

Aber selbst dann, wenn Verhaltensforscher das potentielle Reizfeld eines Versuchstiers geklärt haben, werden sie normalerweise dennoch immer die komplette Versuchsumgebung angeben und nicht nur die daraus resultierende Folge von Reizen. Mithilfe der zuvor vorgenommenen Klärung der potentiellen Reize kann man diese Reizfolge bei Vorlage der Versuchsumgebung und der jeweiligen Versuchstiere 'heraus rechnen'.

Im Falle von Computersimulationen und unter Benutzung expliziter formaler Theorien kann man die Versuchsumgebung $W$ explizit angeben und mittels einer eigenen Schnittstellenfunktion $inp()$ (vgl. die Definition von 'Welt' 3.3) für jedes beteiligte Versuchstier $S_{i}$ automatisch berechnen lassen, welches die Reizmenge $P^{S.i}_{POS}$ für dieses Versuchstier an einer bestimmten Position $POS$ in der Welt $W$ ist. Dies bedeutet, man bekommt automatisch nicht nur die Versuchsumgebung $W$ geliefert, sondern auch genau den Reiz $s$, den das Versuchstier an dieser Position 'wahrnimmt'. Dadurch lässt sich direkt eine Zuordnung zur zeitlich nächsten Aktion $r$ dieses Versuchstiers als Reiz-Reaktions-Paar $(s,r)$ herstellen. Allerdings folgt daraus nicht, dass die beobachtbare Aktion $r$ eine direkte 'Reaktion' auf den beobachtbaren Reiz $s$ darstellt. Dies hängt mit der grundlegenden Struktur eines 'lernenden' Systems zusammen (vgl. den Abschnitt 2.3). Ein lernendes System $LSYS$ verfügt ja nach Annahme über interne Zustände $ IS$, die durch die Verhaltensfunktion $\phi: IN \times IS \mapsto IS \times OUT$ geändert werden können. Dies schließt 'Erinnerungen' mit ein. Es kann also sein, dass eine aktuelle Aktion $r$ im Reiz-Reaktions-Paar $(s,r)$ deswegen auf den aktuellen Reiz $s$ reagiert, weil diesem viel früher andere Reiz-Reaktions-Paare vorausgegangen sind, die erst jetzt eine 'Wirkung' entfalten.

Im Falle der Tolman-Experimente bedeutet dies, dass der jeweilige aktuelle Reize $s$ an einer Verzweigung in der Versuchsumgebung Labyrinth nach der 'Interpretation' der Forscher zu Beginn mit keiner 'Erinnerung' korreliert. Nach immer mehr Wiederholungen der Experimente sammeln sich aber 'Erinnerungen' an, d.h. zu einem bestimmten Reiz $s$ gibt es 'Erinnerungen' der Art, dass es zu einem Reiz $s$ eine Reaktion $r$ gibt und zusätzlich eine Art 'Bewertung' mit Bezug auf ein mögliches Ziel. Die Menge solcher 'erinnerbaren' $(s,r)$-Paare mit Bewertungen könnte man dann eventuell als mögliches Korrelat des theoretischen Begriffs 'Gedankliche Karte' ('cognitive map') ansehen.

Gerd Doeben-Henisch 2014-01-14