Beispiel Empirische Modellbildung

(Vorläufige Version; muss noch weiter ausgearbeitet werden)

In diesem Abschnitt soll alternativ gezeigt werden, wie man, ausgehend von einer Fragestellung und gezielten eigenen Experimente zu ersten Umrissen eines Theoriekonzepts kommen kann. Ausgangspunkt bildet wieder die Experimentieranordnung freie Reproduktion (free recall), zu der Arbinger (vgl. [7]:33f) das Phänomen der serialen Positionskurve (vgl. Murdock (1962)[195]) referiert.

Das Schema freie Reproduktion wird so gehandhabt, dass eine Liste von Wörtern im Abstand von jeweils 10s laut vorgelesen wird. Nach einer Pause von 60s haben dann die Versuchspersonen 3min Zeit, die gehörten Worte auf einen Zettel zu schreiben. Bei der Auswertung zählt primär die richtige Position (Ja/Nein) und sekundär, falls das Wort auf der richtigen Position ist, die Ähnlichkeit des geschriebenen Wortes mit dem gehörten Wort. Die Übereinstimmung anhand der Konsonanten und Vokale wird prozentual ausgedrückt (z.B. Gesprochen 'Lana' und geschrieben 'hama' würde mit 0,5 (=50%) bewertet werden).

Ein erstes einfaches Experiment mit 13 bzw. 14 Versuchspersonen und 6 bzw. 12 sinnlosen Worten (die aber partiell bei einzelnen Vpns Ähnlichkeiten zu bekannten anderen Worten aufweisen konnten) erbrachte folgende Ergebnisse (vgl. 5.7 und 5.8).

Figure 5.7: Erinnerung 6 und 12 Items,Sinnlos, 13-14Vpns
\includegraphics[width=5.0in]{Erinnerung_6_und_12_Items_Sinnlos_13-14Vpn_26nov2010_5.0in.eps}

Figure 5.8: Erinnerung 6 und 12 Items,Sinnlos, 13-14Vpns
\includegraphics[width=4.5in]{Erinnerung_Diagramm_6_und_12_Items_Sinnlos_13-14Vpn_26nov2010_4.5in.eps}

Das erste Experiment mit nur 6 Worten zeigt eine Abnahme der Erinnerungsgenauigkeit mit Fortschreiten der Position und einer Gesamtkapazität von 68%. Dies bedeutet, dass von der theoretisch maximalen möglichen Erinnerungsleistung stehen ca. 2/3 zur Verfügung.

Im zweiten Experiment mit doppelt so vielen Worten (12) fällt die manifestierte Erinnerungsleistung auf ca. 1/3 (36,4%) zurück, halbiert sich also verglichen mit dem vorausgehenden Experiment. Insgesamt sind die ersten und letzten Worte am besten erinnert mit Ausnahme des Wortes 'AHA' an Position 8, das allgemein als 'bekannt' qualifiziert wurde.

Daraus ergebn sich einige Hypothesen:

  1. Nimmt man das Gedächtnis als zwei Listen an, als K-Liste (Kurzzeit-L) und als L-Liste (Langzeit-L),
  2. und nimmt man an, dass in der L-Liste nur solche Elemente aus der K-Liste übernommen werden, die eine minimale Zeitdauer $t_{W}$ wiederholt werden
  3. und nimmt man an, dass die K-Liste endlich ist mit einer Länge $l_{K}$ von ca. 6 Einheiten,
  4. dann wäre Experiment 1 so zu verstehen, dass alle gesprochenen Worte in der K-Liste waren und alle wiederholt werden konnten, allerdings unterschiedlich lang; am längsten wurden die vorderen wiederholt. Entsprechend war die Erinnerungsleistung 'vorne' besser als 'hinten'.
  5. dann wäre Experiment 2 so zu verstehen, dass nicht alle Worte in der K-Liste gespeichert werden konnten. Ab ca. Position 6 mussten alle neuen Worte auf Positionen geschrieben werden, auf der eines der ersten Worte geschrieben stand. Die alten Worte wurden überschrieben. Während die Wiederholungsraten der ersten Worte offensichtlich 'hoch genug' waren, um über die L-Liste verfügbar zu bleiben und das letzte Wort noch im Speicher war, haben alle anderen Worte offensichtlich zu wenig Wiederholungszeit gehabt, um genügend erinnert zu werden. Auffällig sind allerdings 'AHA' auf Pos.8 und 'TASO' auf Pos.6. Hier bietet sich als Hypothese an, dass beide das Wort 'TASO' zumindest eine Ähnlichkeit mit einem bekannten Wort hat (TASSE) und das Wort 'AHA' selbst eine starke Bekanntheit besitzt.

Um diese ersten Überlegungen weiter zu überprüfen, wurden drei weitere Experimente durchgeführt.

Bei diesen Experimenten sollten die bisherigen Annahmen dahingehend überprüft werden, wie das Wechselspiel zwischen K- und L-Liste genauer ist. Dazu solle eine Liste mit möglichst 'sinnlosen' (sprich 'unbekannten') Worten benutzt werden, eine mit möglichst 'sinnvollen', d.h. 'bekannten' Worten sowie eine Liste mit 'unbekannten' Worten und darin eingebettet drei 'bekannte' Worten5.1. Zugleich wurde die Anzahl der Worte auf das ca. Vierfache der angenommenen durchschnittlichen Länge der K-Liste erhöht. Die Ergebnisse sind wie folgt (vgl. 5.9, 5.10, 5.11, 5.12, 5.13, 5.14):

Figure 5.9: Erinnerung 24 Items,Unbekannt, 10Vpns
\includegraphics[width=4.5in]{Erinnerung_24_Items_Sinnlos_10Vpn_30nov2010_4.5in.eps}

Figure 5.10: Erinnerung 24 Items,Unbekannt, 10Vpns
\includegraphics[width=5.0in]{Erinnerung_Diagramm_24_Items_Sinnlos_10Vpn_30nov2010_5.0in.eps}

Die erste Beobachtung ist, dass sich die Gesamtkapazität mit der Verdoppelung der sinnlosen Wortliste weiter mehr als halbiert hat gegenüber der Reihe der sinnlosen Worte mit 12 Elementen. Ferner bestätigt sich der Eindruck, dass alle Elemente 'zwischen' Anfang und Ende deutlich schwächer sind, als die Eingangs und Schlussworte. Allerdings fällt auf, dass es auf den Positionen 6-10 einen starken Block gibt, der sich von der Umgebung abhebt.

Im Rahmen rein informeller Überlegungen ist es schwierig, deutlich mehr zu sagen.

Figure 5.11: Erinnerung 24 Items, Unbekannt-3, 10Vpns
\includegraphics[width=4.5in]{Erinnerung_24_Items_Sinnlos-3_10Vpn_30nov2010_4.5in.eps}

Figure 5.12: Erinnerung 24 Items, Unbekannt-3, 10Vpns
\includegraphics[width=5.0in]{Erinnerung_Diagramm_24_Items_Sinnlos-3_10Vpn_30nov2010_5.0in.eps}

Beim zweiten Experiment mit 24 Worten, von denen 21 unbekannt waren und drei 'bekannt' fällt auf, dass die Gesamtkapazität sich zwar leicht verbessert hat gegenüber dem vorausgehenden Experiment, dass aber die Gesamtkapazität dennoch mit 17% gegenüber 34% nur die Hälfte gegenüber der Liste mit 12 Elementen beträgt. Außerdem kann man beobachten, dass in diesem Experiment fast ausschließlich die drei 'bekannten' Worte erinnert wurden und die anderen zuvor beobachteten starken Erinnerungsleistungen verschwunden sind. Dies kann auch ein Artefakt der Aufgabenstellung durch den Experimentator sein, da dieser zu Beginn drei 'bekannte' Worte angekündigt hatte, woraufhin sich offensichtlich die Mehrheit auf eine Strategie verlegt hatte, wenigstens die drei bekannten Worte zu erinnern. Dieser ungewollte Effekt des 'gezielten Verdrängens' könnte ein eigener Untersuchungsgegenstand sein (wozu es viel Literatur gibt!).

Figure 5.13: Erinnerung 24 Items, Bekannt, 10Vpns
\includegraphics[width=4.5in]{Erinnerung_24_Items_Sinnvoll_10Vpn_30nov2010_4.5in.eps}

Figure 5.14: Erinnerung 24 Items, Bekannt, 10Vpns
\includegraphics[width=5.0in]{Erinnerung_Diagramm_24_Items_Sinnvoll_10Vpn_30nov2010_5.0in.eps}

Ersetzt man die unbekannten Worte durch bekannte, dann verdoppelt sich die Gesamtkapazität von 14% bzw. 17% auf 34,5%. Man sieht einen eher V-förmigen Verlauf der Werte mit einem auffälligen Heraustreten des Wortes 'Form' auf Position 11. Im Allgemeinen beobachtet man die stärkste Abschwächung im Bereich der Positionen 7-19, also - bei Annahme von Länge 6 für die K-Liste - die zweite und dritte 'Füllung'.

Figure 5.15: Vergleich der Kapazitaeten
\includegraphics[width=2.5in]{Erinnerung_Zusammenfassung_Exp1-5_2.5in.eps}

Setzt man die ermittelten Kapazitätswerte in Relation zur möglichen Größe der K-Liste, dann erhält man die Werte (vgl. Bild 5.15) von ca. 4 Elemente für sinnlose Worte und ca. 8 Elemente für bekannte Worte. Dies bedeutet, dass man bei bekannten Elementen - also bei Unterstützung durch die L-Liste - die Menge der erinnerbaren Worte in etwa verdoppeln kann.

Eine andere Deutung wäre, dass bei einer Annahme von ca. 6 Positionen maximal in der K-Liste eine 'gemessene' Kapazität von 4 Positionen bedeuten würde, dass bei Auftreten von unbekannten Elementen 30-40% der Leistung nicht verfügbar ist, während umgekehrt eine gemessene Kapazität von 8 Positionen bedeutet, dass sich die Kapazitätsleistung mit bekannten Elementen um bis zu 30-40% verbessern läßt. Wir hätten dann einen Wert von 6+/-2 Elementen für die K-Liste je nachdem, wie unbekannt bzw. bekannt die zu erinnernden Elemente sind.

Diese Ergebnisse können nun der Ausgangspunkt sowohl für eine explizite formale Modellbildung sein (auch verknüpft mit einer Softwareimplementierung) wie auch für weitere Experimente.

Eine weitere Variante wäre eine Darbietung der Wort-Stimuli nicht als gesprochene Worte sondern mittels geschriebener Worte. Ein Student hat solch ein Experiment in der letzten Sitzung weitgehend computergestützt durchgeführt. Die Ergebnisse werden demnächst hier veröffentlicht werden.

In den nächsten beiden Versuchen wurde stark idealisiertes Bildmaterial benutzt: jeweils 5 schwarze Punkte wurden gezeigt, die auf einer Fläche von 5x5 weissen Feldern verteilt waren; einmal rein zufällig, einmal bekannten Mustern folgend. Dies entsprach strukturell in etwa der Anordnung von 12 unbekannten versus 12 bekannten Worten.

Auffällig ist, wie stark sich die 4er und die 11er-Gruppe unterscheiden: während die 11er-Gruppe die Z-Werte annähernd gleichmäßig verteilt, hat die 4er-Gruppe starke Schwerpunkte entweder in Richtung bekannt oder unbekannt. Ferner fällt auf, dass von den Worten zwischen 14.2 (unbekannt) und 34.5% (bekannt) erinnert werden, bei den Bildern aber 22.6 (unbekannt) und 70% (bekannt).

Figure 5.16: Erinnerung 12 BildItems,Unbekannt, 4Vpns
\includegraphics[width=4.5in]{memtest_7dez2010_tabelle_12_unbekannt_muster_4.5in.eps}

Figure 5.17: Erinnerung 12 BildItems,Unbekannt, 4Vpns
\includegraphics[width=3.5in]{memtest_7dez2010_diagramm_12_unbekannt_muster_4.5in.eps}

Figure 5.18: Erinnerung 12 BildItems,Bekannt, 4Vpns
\includegraphics[width=4.5in]{memtest_7dez2010_tabelle_12_bekannte_muster_4.5in.eps}

Figure 5.19: Erinnerung 12 BildItems,Bekannt, 4Vpns
\includegraphics[width=3.5in]{memtest_7dez2010_diagramm_12_bekannte_muster_3.5in.eps}

Figure 5.20: Erinnerung 12 BildItems,Unbekannt, 11Vpns
\includegraphics[width=4.5in]{memtest_unbekannt_12Bild_7dez2010._tabelle_4.5in.eps}

Figure 5.21: Erinnerung 12 BildItems,Unbekannt, 11Vpns
\includegraphics[width=3.5in]{memtest_unbekannt_12Bild_7dez2010_diagramm_3.5in.eps}

Figure 5.22: Erinnerung 12 BildItems,Bekannt, 11Vpns
\includegraphics[width=4.5in]{memtest_bekannt_12Bild_7dez2010_tabelle_4.5in.eps}

Figure 5.23: Erinnerung 12 BildItems,Bekannt, 11Vpns
\includegraphics[width=3.5in]{memtest_bekannt_12Bild_7dec2010_diagramm_3.5in.eps}

Dies alles sind noch recht vage Beobachtungen. Es stellt sich die Frage, ob man dieser Ergebnisse weiter präzisieren kann. Dazu muss man zu einer stärker formalisierten Modellbildung übergehen verbunden mit weiteren gezielten Experimenten, die Entscheidungen zwischen verschiedenen Modellvarianten zulassen. Im Falle der bisherigen kleinen Versuchsgruppen sieht man, dass die Ergebnisse nicht unbedingt 'zwingend' sind.

Gerd Doeben-Henisch 2010-12-16