Historisches Beispiel Ebbinghaus

Nach allgemeiner Ansicht (siehe z.B. Kintsch (1982)[135]:46ff, Marx et al.(1987)[167]:50f, Mazur (2004)[169]:42ff) gilt Ebbinghaus (1885)[57] als der Begründer der modernen experimentellen Gedächtnisforschung. Im Vorwort schreibt er, dass er die ``Erscheinungen des Gedächtnisses im weitesten Sinne (...) einer experimentellen Behandlung unterwerfen möchte''. Obwohl er in diesen Untersuchungen sowohl Testleiter wie auch die einzige Versuchsperson war stellte sich heraus, dass sich in den von ihm erhobenen Daten Beziehungen auffinden ließen, die bei späteren Experimenten mit anderen Personen vielfach Bestätigung fanden.

Er beginnt seine Untersuchung mit dem Wissen über das Gedächtnis, wie es sich im Rahmen der Alltagserfahrung darbietet, die auf dem subjektiven Erleben basiert, also dem, was die Philosophen den Bereich der 'Qualia' oder 'Phänomene' nennen.

  1. Wir können den 'Inhalt' des Gedächtnisses nicht direkt beobachten, nur aus unterstellten Wirkungen indirekt 'erschließen'.
  2. In vielen Fällen können wir bestimmte Inhalte bewusst erinnern, indem wir uns auf bestimmte Inhalte konzentrieren; zugleich werden dabei auch Inhalte erinnert, die nicht unbedingt im Fokus standen, aber bei dieser Gelegenheit mit erinnert wurden (vgl. [57]:1).
  3. In anderen Fällen können wir bestimmte Inhalte erinnern ohne dass wir sie bewusst erinnern wollten. Wir 'wissen' aber irgendwie, dass wir diese Inhalte schon einmal erlebt hatten (vgl.[57]:1). Ferner sind diese 'spontanen' Erinnerung in der Regel nicht 'zufällig' sondern wurden ausgelöst von einem aktuell erlebtem Inhalt (vgl. [57]:2).
  4. Bewusstseinsinhalte können auch dann eine Wirkung entfalten, wenn sie nicht bewusst werden. Dies zeigt sich indirekt, wenn andere Inhalte durch die schon 'bekannten' Inhalte besser verarbeitet werden können (vgl. [57]:2).
  5. Es scheint ferner einen direkten Zusammenhang zu geben zwischen der Intensität des Erlebens von Inhalten auf der einen Seite und der Korrektheit und Schnelligkeit des Erinnerns auf der anderen Seite (vgl. [57]:2,3).
  6. Ferner spielen die verschiedenen Sinnesmodalitäten eine Rolle (vgl. [57]:2f)
  7. Ferner spielt die Häufigkeit der Wiederholung eine zentrale Rolle für die Erinnerung; praktisch alle Inhalte können sich auf Dauer abschwächen bzw. können sich dem Erinnern ganz entziehen, wenn die Häufigkeit der Wiederholung auf Null geht (vgl. [57]:3).

Die Gesamtheit dieser Alltagserfahrung klassifiziert Ebbinghaus als zu unbestimmt, als dass man auf dieser Grundlage eine ernsthafte Theorie der Gedächtnis-, Reproduktions- und Assoziationsvorgänge aufbauen könnte (vgl. [57]:4). Um diesen unbefriedigenden Wissensstand zu überwinden, möchte Ebbinghaus die Methoden der Naturwissenschaften auf die Phänomene des Gedächtnisses anwenden. In den Naturwissenschaften versucht man Zusammenhänge zwischen verschiedenen Phänomenen dadurch zu ermitteln, dass man bzgl. einer ausgewählten Menge von möglicherweise zusammenhängenden Phänomenen (z.B. $\{P1\} 'beeinflusst' \{P2\}$) man einzelne Parameter variiert und dabei überprüft, ob und wie sich andere Parameter in Abhängigkeit von den variierenden Parametern ändern (vgl. [57]:6) (also z.B. variiert man die Werte von $\{P1\}$ und untersucht, ob und wie sich die Werte von $\{P2\}$ ändern).

Für den Bereich der zuvor erwähnten Alltagsphänomene des Gedächtnisses erkennt Ebbinghaus einen Ansatzpunkt darin, zu zählen, wie viele Worte korrekt erinnert wurden; dabei kann man sowohl die Zeit zwischen Darbietung und Erinnern messen wie auch die Anzahl der Wiederholungen (vgl. [57]:7). Ein psychologisches Experiment ist für Ebbinghaus dann die künstliche Herbeiführung einer nicht von selbst eintretenden Reproduktion durch eine entsprechende Zahl von Wiederholungen unter klaren Randbedingungen (vgl. [57]:8). Er diskutiert auch die Frage, ob man in diesen Versuchen besonders charakteristische Zustände auszeichnen kann, ohne aber m.E. zu einem klaren Ergebnis zu kommen (vgl. [57]:8f).

Erstellt sich auch der Frage, ob und wieweit man die Randbedingungen konstant halten kann (vgl. [57]:10f). Letztlich ist dies auch eine Frage nach der Zuverlässigkeit der Daten. Er unterscheidet hier zwischen naturwissenschaftlicher Konstanz und statistischer; im ersten Fall werden die Daten immer durch die gleichen Ursachen hervorgebracht und variieren 'systematisch'; im statistischen Fall können sich gänzlich unterschiedliche Ursachen zu einer Wirkung mischen; die Variationen können in diesem Fall gänzlich unterschiedliche Gründe haben. Nur im naturwissenschaftlichen Fall wird man daher die notwendige Konstanz der Werte resultierend aus einem gleichen Ursachengefüge finden (vgl. [57]:11f). Ebbinghaus motiviert dann noch das - auf einer Normalverteilung beruhende - Fehlergesetz, das es erlaubt, allein aufgrund Verteilung der Werte relativ zum Mittelwert eine Abschätzung über deren Qualität zu bekommen (vgl. [57]:13-16, 17f). Während man einerseits klar sagen kann, dass man Gedächtnisleistungen direkt messen kann, so ist vorab nie sicher, ob die messbaren Phänomene auch immer auf ein einheitlich konstantes Ursachengefüge zurückgehen. Dies ist im Einzelfall zu überprüfen (vgl. [57]:16f).

Gerd Doeben-Henisch 2010-12-16