Wenn zuvor herausgearbeitet worden ist, dass wir Menschen aus unserer Erlebnisperspektive die Welt in einer zeitlichen Struktur wahrnehmen, dann heisst dies noch nicht notwendigerweise, dass die Welt jenseits unserer subjektiven Wahrnehmung 'tatsächlich' auch eine zeitliche Struktur besitzt; zunächst kann man nicht ausschliessen, dass die 'reale' Welt möglicherweise keine Zeitstruktur besitzt. Für die Konstruktion von Realzeitsystemen, die mehr oder weniger Teile der 'realen Welt' messen und steuern sollen, kann es nicht natürlich nicht ganz egal sein, wie diese Frage beantwortet wird.
Da der Aspekt der Zeitlichkeit die Menschen schon seit frühesten Zeiten menschlicher Kultur beschäftigt, wird es nicht verwundern, wenn es zu diesem Thema eine sehr umfangreiche Literatur gibt. Für eine erste umfassende Einführung in das Thema sei verwiesen auf das Buch The Natural Philosophy of Time von WHITROW (1980)[112], und Robinson (2007)[80].
Im Telegrammstil sei hier nur auf einige der grossen Linien in der jahrtausendelangen Diskussion hingewiesen.
Schon ca. 8000 Jahre v.Chr. finden sich in Knochen gekerbte Mondkalender ( [80]:17) oder die berühmte Himmelsscheibe von Nebra (Sachsen-Anhalt, Deutschland) aus der zeit 1600 v.Chr. ( [80]:9). Mindestens seit der griechischen Philosophie und Wissenschaft lassen sich zudem zwei unterschiedliche Strömungen nachweisen: eine, die versuchte, bei der Beschreibung der Welt ganz auf den Faktor Zeit zu verzichten (so in den geometrisierenden Darstellungen eines Archimedes), andere, die meinten, man muss den Faktor Zeit einbeziehen (so durch Aristoteles, der sich dem Phänomen der Bewegung explizit stellte). Der Versuch, die Zeit zu eliminieren durch Rückzug auf das rein Räumliche hielt sich durch viele Jahrhunderte.
Nimmt man 'irgendwie' den Faktor Zeit an, dann gibt es eine andere grosse Unterscheidung, nämlich die, ob die Zeit linear zu sehen ist oder zyklisch. Die frühen Zeitmodelle, die primär durch die Beobachtung zyklischer Naturphänomene geprägt waren, waren eher zyklisch; teilweise schon durch das Judentum, auf jeden Fall aber durch das Christentum, wurde eine lineare Auffassung der Zeit motiviert. Diese Diskussion dauert eigentlich bis heute an (siehe unten).
Eine andere wichtige Unterscheidung ist die in absolute und relative Zeit. Der bekannteste Initiator eines absoluten Zeitbegriffs war der Mathematiker und Physiker Newton (1643 - 1727). Sein erster prominentestes Widersacher war das Universalgenie Leibniz (1646 - 1716), der Zeit als relativ auffasste. Die relationale Auffassung der Zeit geht im Prinzip davon aus, dass Zeit nicht unabhängig von konkreten Ereignissen gemessen und gedacht werden kann.
Mit dem relationalen Zeitbegriff wären sowohl ein zyklisches wie ein lineares Modell kompatibel. Die Frage ist also, ob es in der Natur Hinweise gibt, die auf eine Gerichtetheit hinweisen.
Diese Frage war und ist eine der am intensivsten diskutierten Fragen in der Physik bis heute. In der Zusammenfassung von Whitrow [112]:9-12 überwiegen die Argumente dafür, dass -zumindest innerhalb des bekannten Weltalls- mehr für eine Gerichtetheit der Prozesse spricht als dagegen.
Was speziell die biologische Sphäre angeht, so ist allerdings auf das interessante Detail hinzuweisen, dass der Prozess der Weitergabe von genetischer Information als solcher prinzipiell umkehrbar ist; welche Varianten sich auch immer bilden mögen. Die Natur des Prozesses erlaubt nicht nur theoretisch eine 'Rückentwicklung', sie kommt auch empirisch vor. Dass wir historisch -also aufgrund der Artefakte- den Eindruck einer gerichteten Entwicklung haben, liegt darin begründet, dass die in einem bestimmten Zeitintervall gerade verfügbaren biologischen Systeme an ganz spezifische Umgebungsbedingungen gekoppelt waren, die nur bestimmten Systemen das Überleben ermöglichten. D.h. nur aufgrund der Interaktion mit einer bestimmten Umwelt entstand als Seiteneffekt eine Art Selektion. Die theoretisch mögliche 'Rückentwicklung' bestimmter biologischer Stukturen scheitert dann daran, dass die jeweiligen Umgebungen -zu denen dann auch die konkurrierenden anderen biologischen Systeme gehören-, ein Überleben schwer bis unmöglich machen. Falls man hier von einer 'Gerichtetheit' sprechen will, muss man einen sehr komplexen Begriff von Gerichtetheit anwenden.
Hinzuweisen ist auch noch auf den erkenntnistheoretischen Aspekt, unter welchen Bedingungen wir überhaupt Zeit wahrnehmen und denken können. Unser bewusstes Erleben setzt das funktionierende Gehirn in einem funktionierenden Körper voraus. Der heutige Körper des Menschen ist das Ergebnis der Entwicklung von vielen Millionen Jahren, von der man nicht sagen kann, dass sie an einem 'Endpunkt' angekommen sei. Es liegt in der Natur des biologischen Prozesses, dass sich unsere Körper -und damit die Gehirne und die daran geknüpften Formen des Bewusstseins- weiter entwickeln können und werden. In ein paar tausend Jahren -oder auch 10.000 oder Millionen von Jahren- können die Körper und Gehirne von Menschen ganz anders aussehen als heute. Biologisches Leben impliziert Veränderung (zu den vielen interessanten Büchern als Einstieg in das Thema Evolution hier z.B. Bowler (1989)[10], Küppers (1990) [50], Storch et al (2007)[96]).
Gerd Doeben-Henisch 2013-01-16