Zeiterleben und Gehirn

Die Wissenschaft der Psychologie ist methodisch darauf beschränkt, aus beobachbaren Verhaltensweisen (PhW-Daten) von Menschen und ihren Selbstaussagen (Ph-Daten) auf mögliche, dem Verhalten und dem Erleben zugrundeliegenden, Strukturen zu schliessen. Aufgrund der Komplexität des menschlichen Verhaltens und Erlebens ist man mit diesem Vorgehen sehr schnell an den Grenzen sinnvoller Modellbildung angelangt (vgl. z.B. das zu seiner Zeit einflussreiche Handbuch zur kognitiven Psychologie von Estes (1975-78)[28]). Auch die vielfältigen Versuche, z.B. psychologische Modelle des menschlichen Gedächtnisses zu entwickeln, können dies sehr schön belegen (siehe z.B. Hoffmann (1982) [35], Jüttner (1979) [41], Kintsch (1982) [45], und Klix (1980)[46]).

Mit der modernen Gehirnforschung erschliesst sich nun mehr und mehr die Möglichkeit, die konkrete Strukturen (N-Daten) 'hinter' dem Verhalten und Erleben direkt in Augenschein zu nehmen. Allerdings bietet dies keinen 'Automatismus der Enthüllung', sondern das Verstehen der Komplexität der neuronalen Maschinerie stellt eine immense Herausforderung dar, die dadurch erschwert wird, dass die neuronalen Daten von sich aus noch nichts über das zugehörige Verhalten oder Erleben sagen. Den Zusammenhang zwischen neuronalen Daten und Verhaltens- bzw. Erlebnisdaten muss explizit erarbeitet werden. Dies ist die Domäne der Neuropsychologie (S-N-R-Daten bzw. N-Ph-Daten oder gar S-N-Ph-R-Daten).

Die Literatur hierzu ist uferlos. Hier nur ein paar Stichworte (Für erste Überblicke siehe z.B. J.DUDEL, R.MENZEL, R.F.SCHMIDT [1996][20], M.S.GAZZANIGA [1995][30], Robert D. KNIGHT, Marcia GRABOWECKY [1995][47], Bryan KOLB, Ian Q.WHISLAW [1993][48], R.F.SCHMIDT, G.THEWS[1995][92], G.M. SHEPHERD [1994][94]).

Für den vorliegenden Zusammenhang wichtig ist zunächst der grundlegenden Tatbestand, dass die Informationsverarbeitung im Gehirn in und zwischen den Neuronen über chemische und elektrische Prozesse vermittelt wird, die Zeit benötigen. Je mehr Neuronen involviert sind, um so mehr Zeit wird benötigt. Dabei kann man eine grosse Variabilität in der Arbeitsgeschwindigkeit feststellen. Die obere Grenze der Reizerzeugungskapazität liegt zwischen ca. 20 und ca. 800 Impulsen pro Sekunde [Hz].

Diese Prozesse ('Molekülwolken' der Transmitterausschüttung, 'Spontanaktionen' bei Rezeptoren, Spannweite bevor Auslösung des Aktionspotentials...) sind zudem lokal mit Ungenauigkeiten behaftet, die im Zeitbereich zu 'Jitter'-Phänomenen führen, die sich bei Nacheinanderschaltung kaskadieren.

Je komplexer die neuronalen Schaltungen sind, umso mehr kommen auch Rückkoppelungseffekte zum Tragen, die dazu führen, dass zeitlich kurze Reize ($<$ 50ms) zu Erregungswirkungen führen können, die mehrere Sekunden andauern ('Nachwirkungen'). Dadurch können 'neuronal' Ereignisse als 'gleichzeitig' erscheinen, die physikalisch zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattgefunden haben.

Allein diese wenigen Eigenschaften neuronaler Informationsverarbeitung lassen schon erahnen, dass die Besonderheit neuronaler Stukturen deutliche Grenzen bzgl. der Verarbeitung 'schneller' wie 'langsamer' bzw. auch 'komplexer' Ereignisse induziert. Es gibt untere Grenzen bzgl. der Reaktionsgeschwindigkeit, und es gibt obere Grenzen bzgl. der Menge der gleichzeit verarbeitbaren Ereignisse.

Auf weitere Details der neuronalen Informationsverarbeitung muss hier leider verzichtet werden.

Gerd Doeben-Henisch 2013-01-16