Reale Welt und Zeiterleben

Im alltäglichen Leben haben wir uns daran gewöhnt, dass wir von Zeit sprechen, nicht zuletzt, weil wir wie selbstverständlich Uhren benutzen. Uhren sind technische Systeme, die Zeitmarken generieren, die idealerweise einen gleichmässigen Abstand zwischen zwei benachbarten Zeitpunkten repräsentieren sollen. Uhren erzeugen somit eine technische Zeit, die als Hilfsmittel benutzt wird, um das subjektive Zeiterleben zu koordinieren. Denn auch unabhängig von der technischen Zeit hat normalerweise jeder Mensch ein Zeiterleben, das darauf basiert, dass wir Veränderungen wahrnehmen können. Der Begriff der subjektiven Veränderung ist nicht weiter begründbar; er ist unserem Welterleben quasi 'eingebaut', wir verfügen durch unseren Körper über die Fähigkeit, feststellen zu können, dass sich eine bestimmte Eigenschaft $E$ im Kontext von einem oder mehreren Objekten gegenüber vorher verändert hat.

In der Wissenschaft versucht man bei Messprozessen vom Faktor Mensch zu abstrahieren und beschränkt sich auf sogenannte objektive Daten, eben solche, deren Messung unabhängig vom subjektiven Erleben des Menschen sind. Bei dieser Betrachtungsweise vergisst man schnell, dass auch die sogenannten objektiven Daten aus Sicht eines Menschen unausweichlich subjektiv sind, d.h. die sogenannten 'objektiven' Daten sind eine echte Teilmenge der sogenannten subjektiven Erlebnisse eines Menschen, da ein Mensch die Welt primär aus seiner persönlichen, individuellen Erlebnisperspektive wahrnimmt, erfährt. Die Menge der Erlebnisse, die diese Perspektive charakterisieren, nennen die Philosophen auch Phänomene (Ph) ; ein Phänomen ist einfach das, was man im Raum des subjektiven Erlebens unterscheiden kann. Und jene Phänomene PH, die durch intersubjektive Gegebenheiten 'verursacht' sind, bilden die echte Teilmenge der weltbezogenen Phänomene (PhW) innerhalb der subjektiven Phänomene (vgl. Bild 16.1).

Figure 16.1: Erlebnisraum mit Phänomenen PH, Teilmenge weltbezogene Phänomene PhW
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Wie jeder lernt, ist es einfacher, sich mittels Sprache über weltbezogene -sprich: objektive- Phänomene zu verständigen als über subjektive. Über subjektive Phänomene kann man immer nur in Analogien sprechen und unter der Voraussetzung, dass 'der andere' 'irgendwie' ähnliche subjektive Erlebnisse (Phänomene)' hatte wie man selbst (Beispiele: direkt weltbezogen: die Wahrnehmung eines Hundes zwischen zwei Beobachtern A und B; indirekt weltbezogen: die Zahnschmerzen, die der Körper verursacht; keinen direkten Weltbezug: verschiedene fantasievolle Gedankenbilder, die jemand beim Träumen hat).

Es ist von daher nicht erstaunlich, dass die Wissenschaft versucht hat, ihre Aussagen über die Welt auf die objektiven Phänomene aufzubauen. Dabei besteht beständig die Gefahr, die subjektive Basis des objektiven Welterlebens zu vergessen.

Klammert man die subjektive Seite eines Menschen nicht aus -und im Falle von Realzeitsystemen kann man dies nicht!-, dann muss man sich etwas Klarheit darüber verschaffen, wie das Zeiterleben des Menschen beschaffen ist.

Wie schon zuvor bemerkt, besteht das methodische Problem beim Sprechen über subjektive Erlebnisse darin, dass man sie nicht direkt vorweisen kann. Die für die Beschreibung dses menschlichen verhaltens zuständige Disziplin, die experimentelle verhaltensbasierte Psychologie, behilft sich dadurch, dass sie versucht, die Aussagen von Versuchspersonen über ihre subjektiven Erlebnisse an standardisierte 'objektive' Situationen und Abläufe zu koppeln. D.h. in einem Experiment wird eine Situation hergestellt, in der die 'wichtigsten' Eigenschaften der Situation (Parameter oder Variablen genannt) objektiv beschrieben und kontrolliert werden (z.B. ein technisches Gerät zur Klangerzeugung, bei dem man z.B. Tonhöhe, Lautstärke und Dauer der Klangereignisse manipulieren kann). Eine Versuchsperson muss dann relativ zu diesen Parametern Aussagen über ihre subjektiven Erlebnisse in dieser so standardisierten Situation machen (z.B. ob für sie ein Lautereignis e1 lauter oder leiser ist als ein Lautereignis e2; ob e1 eine höhere oder tiefere Frequenz hat, usw.). Für eine allgemeine Einführung siehe z.B. Birbaumer und Schmidt (2006)[8]:Kap.14ff).

Greifen wir hier speziell das Zeiterleben heraus. Die Untersuchung zum Zeiterleben von Kindern im 6.-8.Lebensjahr hat z.B. folgende Hinweise geliefert (siehe [33]:83,90):

  1. Die Zeit hat eine Richtung, sie weist aus der Vergangenheit in die Zukunft
  2. Die Zeit lässt sich durch ein periodisches Ereignis messen und duch Zählen der Perioden in Längen angeben
  3. Die Menschen haben sich darauf geeinigt, Zeit in jeweils gleichen Messgrössen anzugeben: Sekunden, Minuten ... Jahre
  4. Die Zeit bringt Veränderungen, die nicht umkehrbar sind.
  5. Die subjektive Dauer der erlebten Zeit stimmt oft nicht mit der durch die Uhr gemessenen Zeit überein.

Fragt man die Psychologen, ob es analog den bekannten Sinnesmodalitäten (Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen, Lagewahrnehmung, Bewegungswahrnehmung des eigenen Körpers im Raum) auch einen eigenen Zeitsinn gibt, so wird dies verneint. Dennoch gilt, dass Menschen in der Lage sind, zeitliche Dauer von Sachverhalten wahrzunehmen. Dazu gehört auch die Wahrnehmung von Rhythmen und die Fähigkeit, Ordnungen und Abfolgen zu erinnern. Im Verein mit der Neurobiologie gilt heute die Arbeitshypothese, dass die Fähigkeit der Wahrnehmung dieser zeittypischen Eigenschaften auf einer transmodalen zentralnervösen Analyse der Daten der verschiedenen Sinnesorgane beruht (vgl. [33]:91).

Für den Kontext der Realzeitsysteme ist nun speziell interessant, ob es irgendwelche quantitativen Angaben dazu gibt, wieviele Signale ein Mensch in einer bestimmten Zeit verarbeiten kann, d.h. in welchen Zeitintervallen er auf wieviele Signale mit wievielen Aktionen reagieren kann (typische Alltagssituationen hier wäre die Reizflut, die ein Autofahrer oder ein Pilot oder ein Leitstandsführer zu bewältigen haben; wieviele signale gleichzeitig gehen?).

Untersuchungen zur zeitlichen Unterscheidbarkeit von zwei Ereignissen E1 und E2 ergeben, dass die verschiedenen Sinnesmodalitäten unterschiedlich 'genau' unterscheiden; ausserdem können weitere Parameter, die das Ereignis bestimmen, die Unterscheidung beeinflussen (vg. [33]:91ff).

(Die folgenden Werte sind nur erste Hinweise. Systematisch müsste man jetzt alle Sinnesmodalitäten einbeziehen und hier auch die Unterscheidung (homomodal, homotop), (homomodal, heterotop),(heteromodal, --) berücksichtigen. Für die Zukunft geplant)

Modaliät Mindestdauer für Unterscheidung    
akustisch $>$ 80 ms    
haptisch $>$ 160 ms    
visuell $>$ 250 ms    
olfaktorisch $>$ 1 s    

Werden die Ereignisse in kürzeren Abständen dargeboten, sind sie für einen Menschen normalerweise nicht mehr unterscheidbar, obgleich sie in der realen Welt unterschiedlich sind.

Ein anderes Experiment projiziert ein weisses Dreieck so an die Wand, dass es in gleichmässigen Abständen unterschiedlicher Frequenz unterbrochen wird.

Flimmerfrequenz Ereignisse    
$<$ 4 Hz Wechsel zwischen Dreieck u. Dunkelpause    
$>$ 6 Hz Gestaltfusionsfrequenz überschritten    
$>$ 50 Hz Flimmerfusionsfrequenz überschritten    

Bei ener Flimmerfrequenz von F $<$ 4 Hz taucht das weisse Dreieck kurz auf und verschwindet wieder. Bei F$>$ 6 Hz sieht man das Dreieck kontinuierlich, aber seine Helligkeit schwankt. Gestaltfusion findet statt. Ab F$>$ 50 Hz sieht man ein Dreieck konstanter Helligkeit. Jetzt findet auch Flimmerfusion statt (vgl. dazu [33]:96f).

Bei Experimenten mit dem Lesen von Texten kann man feststellen, dass das Lesen aus einem Wechsel von sogenannten Saccaden (10 - 80 ms) besteht (Folgen schneller, kleiner Bewegungen der Augen), die abgewechselt werden von Fixationsperioden (150 - 600 ms). Die eigentliche Informationsaufnahme geschieht während der diskontinuierlichen Fixationsperioden. Der Lesende selbst nimmt aber keine Unterbrechungen wahr. Die Schwierigkeit beim Verstehen von Texten wird durch Zunahme von sogenannten Rückwärtssaccaden angezeigt. Auch diese werden subjektiv nicht wahrgenommen. Es muss also Integrationsprozesse geben, die diese disruptiven Ereignisse sequentiell ordnen. Dazu kommt, dass die Wortbedeutungen sich während des 'vorwärts Lesens' ändern können; dies führt zu Rückwärtskorrekturen. Dabei zeigt sich auch, dass ständig Erwartungen aus vergangene Erfarungen eine Rolle spielen.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass es nicht nur eine untere Grenze in der Wahrnehmung von getrennten Ereignissen gibt, sondern auch eine obere Grenze in der Wahrnehmung von zusammengehörigen Einheiten; bei Sprache liegt diese bei 20 s maximal (vgl. [33]:101).

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Reaktionszeit. Eine einfache Reaktionszeit liegt vor, wenn auf n-viele Ereignisse mit genau einer Aktion geantwortet werden soll; eine Wahlreaktionszeit liegt entsprechend vor, wenn auf n-viele Reize mit m-vielen Aktionen geantwortet werden kann. Experimente zeigen, dass die Wahlreaktionszeit näherungsweise mit dem Logarithmus der Menge möglicher Signal-Reaktionspaare ansteigt. Reaktionszeiten sind abhängig von verschiedenen Faktoren, z.B. von der Modalität, von speziellen Reizeigenschaften, von dem Alter und mehr.

Ferner ist das Faktum der Asymetrie im Falle zeitlicher Ereignisse bemerkenswert. Während ein Mensch bei räumlichen Ereignissen in der Lage ist, das Ereignis auch zu erkennen, wenn es skaliert, rotiert oder gespiegelt wird, ist dies im Falle von zeitlichen Ereignissen nicht der Fall.

Eng damit zusammen hängt das Faktum der Anisotropie im Falle der Erinnerung von zeitlichen Ereignissen. Man kann zwar in der Erinnerung zu fast allen Ereignissen der Vergangenheit 'zurückspringen', will man sie aber in der 'ursprünglicen Reihenfolge' aufzählen, geht dies nur durch eine sequentielle Erinnerung in Zeitrichtung.

Gerd Doeben-Henisch 2013-01-16