Aus Sicht der theoretischen Informatik bildet das Papier von McCulloch und Pitts (1943) [170] sicher einen historisch wichtigen Meilenstein in der Analyse des Gehirns aus Sicht der Berechenbarkeit. Die aus Sicht von McCulloch und Pitts wichtigsten Eigenschaften von Nervenzellen und Nervennetzen werden zusammengefasst und mit einer logischen Sprache (basierend auf Russel und Whitehead (1927)[230], Carnap (1938)[38] sowie Hilbert und Ackermann (1928)[111]) beschrieben. Diese Formalisierung erlaubte im Jahr 1943 ganz neuartige Einsichten in die Struktur und Dynamik neuronaler Netze. Interessant, wenn nicht gar verwirrend, ist die Rezeption dieses Artikels durch die Fachwelt.
Ein -das wichtigste?- Bindeglied zwischen dem Artikel von McCulloch und Pitts (1943) und der späteren Rezeption (z.B. durch Minsky (1967)[181]:Kap.3) ist die umfangreiche Arbeit von Kleene (1956)[136] (die wiederum auf eine frühere Arbeit von Kleene aus dem Jahr 1951 zurückgeht).
Kleene beschränkt sich bei seiner Rekonstruktion von McCulloch und Pitts (1943) auf jene Teile des Artikels, in denen Netze ohne Zyklen beschrieben werden. Diese Netze entsprechen deterministischen endlichen Automaten (DFA := deterministic finite automata), die die Menge der regulären Ausdrücke erkennen können. Dieser Automatentyp ist theoretisch deutlich schwächer als die Turingmaschine TM), aber in der Praxis -wie sich im Laufe der Jahrzehnte zeigte- von höchster Bedeutung.
Interessant ist allerdings, dass McCulloch und Pitts (1943) auch noch solche Netze betrachten, die Zirkel (circles) zulassen. Kleene begründet seine Auslassung dieser Abschnitte des Artikels damit, dass diese Abschnitte unverständlich (obscure) seien (vgl.Kleene (1956)[136]:P.4). In diesem Abschnitt kommen McCulloch und Pitts allerdings zu folgenden interessanten Feststellung (vgl. McCulloch und Pitts (1943) [170]:P.129):
Angenommen, diese Behauptungen liesen aus den Annahmen von McCulloch und Pitts in ihrem Artikel beweisen, wie verhielten diese sich dann zu den Ergebnissen der Automatentheorie nach Kleene?
Mittlerweile ist die Chomsky-Hierarchie allgemein akzeptiert, nach der es eine klare Stufung von Sprachklassen und zugehöerigen Automatentypen gibt (vgl. z.B. das Hierarchietheorem bei Hopcroft und Ullman (1979)[114]:P.228). Zahllose weitere Verfeinerungen existieren mittlerweile (eine sehr gute Übersicht gerade für Automaten bietet z.B. Schneider (2004)[232]). Aufgrund dieser Arbeiten wissen wir, dass zyklische Netze als Repräsentationen von endlichen (deterministischen und indeterministischen) Automaten aufgefasst werden können, die infinite Eingabewörter akzeptieren ( ), d.h. die Zyklen als solche machen einen Automaten noch nicht zu einer Turingmaschine. Das, was die Stärke eines endlichen Automaten entscheidend erweitern würde, das wäre die Möglichkeit, minimale Formen von Gedächtnis (memory) nutzen oder ausbilden zu können. So unterscheiden sich z.B. die Kellerautomaten (Push Down Automata, PDAs), die kontextfreie Sprachen erkennen können und die Linear gebundenen Automaten (Linear Bounded Automata, LBAs), die kontextsensitive Sprachen erkennen können, von normalen endlichen Automaten alleine dadurch, dass sie zusätzlich einfache Speichermöglichkeiten besitzen, die sie immer näher an die Turingmaschine rücken, die unbeschränkt ein Band lesen und wiederbeschreiben kann.
Vor diesem Hintergrund bietet sich folgende erste Bewertung der Thesen McCP-These 1-3 an:
Während die Interpretation der Thesen McCP-These 1-2 mit dem übereinstimmt, was heute allgemein akzeptiert wird, ist die Interpretation der These McCP-These 3 offen. Die Gleichmächtigkeit von Gehirn und Turingmaschine konnte noch nicht zweifelsfrei bewiesen werden, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass es sich hier um eine empirische Hypothese handelt, die nicht rein formal entschieden werden kann. Die heute verfügbaren Daten über das Gehirn lassen diese These zwar immer wahrscheinlicher erscheinen, aber eine endgültige zweifelsfreie Entscheidung steht noch aus (falls sie -aufgrund der Natur der Sachlage- überhaupt jemals zweifelsfrei entschieden werden kann).
Gerd Doeben-Henisch 2010-12-16