IT-Forschung 2006
Förderprogramm Informations-
und Kommunikationstechnik
4.2.5. Bioanaloge Informationsverarbeitung
Ausgangslage
Herausragende Merkmale biologischer Informationsverarbeitungssysteme, wie des Gehirns, des Immunsystems, des Genoms oder staatenbildender Insekten, sind ihre hohe Geschwindigkeit durch Parallelverarbeitung, ihre Flexibilität sowie ihre überaus große Robustheit gegenüber Unvollständigkeiten, Störungen und Fehlern in den sensorischen Daten. Sie haben sich bei der Herausbildung komplexer biologischer Strukturen durch Selbstorganisation entwickelt und in der Natur bewährt.
Bei der Nachbildung dieser Eigenschaften in technischen Systemen waren in den vergangenen Jahren signifikante Erfolge durch die Erforschung und Nutzbarmachung biologischer Prinzipien in der Informationsverarbeitung zu verzeichnen. Beispiele sind hochparallele schnelle Algorithmen für die Lösung komplexer Pfadplanungs- oder Navigationsaufgaben, neue leistungsfähige Algorithmen für Computersehen und Datamining sowie optimierendes Lernen in neuronalen Netzen.
Da es im Bereich der Genomforschung und der Molekularbiologie derzeit eine Explosion von Erkenntnissen gibt, lohnt es sich, nach weiteren biologischen Prinzipien zu suchen, die in informationsverarbeitende Systeme umgesetzt werden können. Die wachsende Datenflut macht dies zudem unerlässlich.
Die Chancen Deutschlands sind außerordentlich hoch, eine führende Rolle in der ²Bioanalogen Informationsverarbeitung² bei der Entwicklung und Anwendung von allgemeinen, vielseitig verwendbaren Prinzipien nach dem Vorbild der autonomen Organisation biologischer Systeme zu übernehmen.
Handlungsbedarf und Ziele
Zur nachhaltigen Weiterentwicklung der bioanalogen Informationsverarbeitung bedarf es zukünftig des noch engeren Zusammenwirkens der Disziplinen Bioinformatik, Neuroinformatik, Neurowissenschaft, Molekularbiologie, Physik und Mathematik. Aus Sicht der Informatik bedeutet dies unter dem Gesichtspunkt der Beherrschung und Organisation vernetzter zielgerichteter Prozesse einen Paradigmenwechsel und eine Neudefinierung der Begriffe "Berechnung" und "Struktur". Das Kernziel ist, von der bisherigen, von der diskreten Mathematik abgeleiteten detailliert-algorithmischen Vorgehensweise auf eine prinzipienorganisierte höhere Ebene des Arbeitens in Strukturen überzugehen und höhere Komplexität für eine bessere Ressourcennutzung handhabbar zu machen (Neurocomputing, Organic Computing).
Als biologische Induktionsbasis können das evolutionäre Geschehen und die neuronale Informationsverarbeitung dienen. Zur formalen Beschreibung der dort auftretenden Phänomene müssen qualitativ neue mathematische Ansätze entwickelt werden. Auf der Grundlage solcher Ansätze können progressive informationsbiologische Theorien erwachsen, die die Informatik fundamental verändern können.
Beim Lernen von der Biologie müssen vor allem die Lösungswege der Natur anstelle der Betrachtung einzelner Phänomene in den Mittelpunkt der Forschung gerückt werden. Der Schwerpunkt wird auf die Entwicklung und Anwendung von allgemeinen, vielseitig verwendbaren Prinzipien zu legen sein.
Forschungsthemen
Gefördert werden grundlegende interdisziplinäre Verbundprojekte aus dem Bereich der Biowissenschaften mit der Informationsverarbeitung, möglichst unter Beteiligung potenzieller Anwender.
Da das Wissen über die Welt für die lebenden Systeme in Strukturen der Evolution gespeichert ist und angesichts der Tatsache, dass die Kenntnisse im Bereich der Genomforschung und der Molekularbiologie explosionsartig gestiegen sind, soll das neue Programm zur Bioanalogen Informationsverarbeitung mit einem Ideenwettbewerb gestartet werden, in dem Biologen, Neurowissenschaftler, Informatiker und Vertreter von Anwendungsdisziplinen gemeinsame Vorschläge für von der Biologie zu übernehmende neue Prinzipien der Informationsverarbeitung in technischen Systemen machen. Themenschwerpunkte sind dabei:
- Organic Computing als erweitertes Paradigma der technischen Informationsverarbeitung
Erweiterung der Theorie dynamischer, sich autonom organisierender und sich anpassender Systeme für die Beschreibung komplexer Prozesse. Hierbei spielt die aufgabenbezogene Strukturierung der Probleme, die sich in der Systemarchitektur niederschlägt, eine entscheidende Rolle.
- Selbstorganisation komplexer technischer Interaktionsformen und vernetzter Strukturen
- Untersuchung realer, komplex vernetzter, kooperierender, zielgerichteter Prozesse von Organisations- und Interaktionsformen (z.B. in der Molekular- und Neuro-Biologie) und Nutzung für Ansätze evolvierender Hard- und Softwaresysteme.
- Hierbei liefert die Biologie durch Merkmalsintegration und synchronisierte Orts-Zeit-Regime im Datenformat ein Vorbild von hoher Effizienz für Extraktion, Repräsentation und Verarbeitung von Information durch Datenreduktion.
- Modellierung und technische Nutzung der gesamten Vielfalt kognitiver Prozesse
- Realisierung der Verarbeitung von präzisen Daten bis hin zu vagem Wissen und emotionaler Information gekoppelt mit anthropomorphen Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeiten von Robotern, um die Kooperation und Akzeptanz des Menschen mit Assistenzsystemen sicherer und natürlicher zu gestalten.
- Verallgemeinerung gegenwärtiger Modelle der Informationsrepräsentation in neuronalen Systemen über statische Repräsentationen und stabile Attraktor-Zustände hinaus auf das Vorbild realer biologischer Systeme. Gesucht sind neuartige mathematische und weitere formale Modelle der Informationscodierung mit Lerndynamiken in verschiedenen Zeitbereichen.
- Strategien biologischer Datencodierungen als Voraussetzung für echtzeitfähige Informationstechniken
- Anforderung zur problembezogenen Strukturierung großer Datenmengen bei zu wenig Wissen oder Anknüpfungsmöglichkeiten für ein algorithmisches Vorgehen.
- Biologische Vorbilder (Gehirn wie auch Genom) für Strategien der Informationskodierung, die eine Selbstorganisation von Information, Flexibilität und Optimeriung bei variablen Zielfunktionen erlauben (evolutionär oder lernend).
- Quantitative Modelle für die Erzeugung, Verarbeitung und Speicherung von Information in robust arbeitenden Netzwerken, z.B. gepulste Neuronen.
- Autonome Roboter und Fahrzeugsysteme
Neue biologische Prinzipien für die robuste Erkennung von Situationen in komplexen natürlichen Szenarien. Die Robustheit biologischer Systeme in unvorhergesehenen Situationen ist für technische Systeme bisher ungelöst.
Anwendungsgebiete
- Optimierung von komplexen Netzwerken der Logistik, hochdimensionaler Robotersysteme, kollektiver Entscheidungsprozesse, adaptiver Prozesse in Organisationen mit Robustheit gegenüber Störungen und begrenzten Parameterveränderungen.
- Die Anwendung neuer, bisher ungenutzter biologischer Prinzipien zur Produktivitätssteigerung in der Softwareentwicklung um Größenordnungen.
- Echtzeit-Umsetzung hochdimensionaler numerischer Information in symbolische Information und Datamining, z.B. für Wirtschaftsinformationen, für Assistenzsysteme in Leitwarten, für die Auswertung, Filterung, Entrauschung breitbandiger Datenströme jeglicher Herkunft (Satellitendaten, Bildinterpretation, Sprache, Textkorpora, WorldWideWeb, Genom, Biomedizin).
- Technische Assistenzsysteme mit adaptiver Anpassung an individuelle kognitive Fähigkeiten der Nutzer durch IT-Lösungen aus der Biologie, z.B. durch Entwicklung bioanaloger Erkennungsmethoden für neue Mensch-Technik-Schnittstellen (Gestik, Mimik, Augenbewegungen, bioelektrische Signale).
- Innovative bioanaloge Lösungen bei nachlassenden sensorischen und kognitiven Fähigkeiten älterer Menschen und bestimmter Patientengruppen.
- Distributive Autonome Mobile Systeme (DAM-Systeme), z.B. für Schwärme zur Überwachung der Umwelt.
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